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le bonheur festival - frankfurt/hattersheim

21.05.2011

[anm.d.red.:
1. Bild, das; -[e]s, -er [mhd. bilde = bild, gestalt, ahd. bilidi = nachbildung, abbild; gestalt, gebilde
2. bei szenemag für gewöhnlich ohne nachbearbeitung in "reinform". keine verwendung von farb- oder sonstigen filtern, keine manipulation, what you see is what you get! evtl. zu sehende verformungen und lichteffekte entstehen ausschließlich auf grund der gegebenheiten vor ort sowie ggf. unter verwendung eines konventionellen fotoblitzes.
3. die umrandeten fotos sind mit groß-formaten hinterlegt. auf wunsch
mailen wir euch auch gerne die original-größen.]

 

"... Es rattert. Es knarzt. Unaufhörlicher Lärm füllt auch die entlegensten Nieschen dieses Ortes. Der Geräuschpegel ist hoch, die Maschinen laufen auf Hochtouren. Von Stillstand kann nicht die Rede sein. In Fließbandproduktion werden Unmengen von Transportenergie in Umlauf gebracht, das System steht. Und wieder: Ein Rumpeln, Zischen, Grölen… Das Geräuschsammelsurium ist weit gedehnt, es scheint, als wolle es sich nie dezimieren.

Einst, in den 70ern, hatte die Phrix AG - eine Zellulose- und Papierfabrik in Okriftel (Stadtteil von Hattersheim am Main im Main-Taunus-Kreis in Hessen) - wirtschaftlich gesehen ein sicheres Standing. Später dann, 1967, musste das Werk geschlossen werden. Seit jeher ist die Phrix nun zu und sie steht - als Industriedenkmal - immer noch. Reichlich ramponiert zwar, aber sie steht und beherbergt jetzt Künstler und zahlreiche Kleinbetriebe.

Heute, 40 Jahre später: Es rattert. Es knarzt. Es brodelt. Wie ein moderates gießen hoch-destillierten Wassers auf Feuer. So sägezahn-scharfspitzig, dass die Angst, von diesem terrestrischen Klanggewitter erstochen zu werden, fast gerechtfertig ist. Das Auftreten und Kompositum der Geräuscheinlagen sind jedoch mehr bedacht, gar "zielgerichteter". Und wieder: Ein Auftauchen monströser Soundfreskel-Wände, so heterogen gestrickt wie tausend Seiten Papier durch den Shredderer gejagt.

Die Rede ist nicht mehr von der Phrix AG, sondern von einem bekannten Musikstück einer neuzeitlichen Musikrichtung. Und da befinden wir uns schon Mitten im Geschehen: Anstatt Industrie-estrichboden ein weit berieseltes Areal von Sand, anstatt Produktionshallen eine urlaubsflair-versprühende Szenerie von mit Palmen bestückten Zirkuszelten, Sandstrand und Wasser, anstatt Produktonsmaschinen zwei DJ Bühnen und: "Blume der Nacht" von DJ Koze.

Im Freudentaumel glückstrunkene Gesichter wiegen sich in den letzten Sonnenstrahlen des Tages und im Dunst des hereinbrechenden Abends, kollektiv die Seele baumelnd in wohltuender schlaraffenland-affiner Glücksoase, doch sicherlich der ein oder andere Kopf mit den plagenden Gedanken, dass dieser einzigartige IST-Zustand von Körper- und Geisthaftigkeit eine - leider - endliche Wohltat zu sein scheint.

Währenddessen jedoch steht die oberste Prämisse, so viel wie nur möglich von Zeit, Raum, (Er-)Leben aufzusaugen. Momente, in denen sich der Mensch teilen möchte. Der eine fürs Fotografieren und Erlebnisse -bildlich - festhalten (um das "Augenzeugen-Alibi" in sicheren Tüchern zu tragen), der andere für das bloße Sein, ein "Sein" vorrangig mit sich selbst. Anders betrachtet ist dieses Sein gar nicht so "bloß", es ist gar eine Kunst im Leben (Jetzt wird es aber wieder zu philosophisch).

Zurück zum Schauplatz. Wir tänzeln barfuß auf den mittlerweile gekühlten Sandkörnern, mehr oder weniger große Seifenblasen, gekommen aus einem neumodischen Gerätschaft namens "Seifenblasen-Maschine", zerplatzen auf unseren Nasenspitzen, leichte Windzüge am Rheinufer durchziehen unseren Haarschopf. Wohin man auch schaut, Gesichter vollends beglückt vom Lauf der Dinge. Ein Lauf der Dinge ohne Kummer, Leid und Sorgen.

Die Rahmenbedingungen für solch ein plagenfreies Leben bietet ein weiteres Open-Air-Festival im Frankfurter Raum. Gerade in hiesigen Zeiten, wo solch Veranstaltungen wie Pilze aus dem Boden wuchern, erschwert sich die Auslese des Guten folgerichtig: Je mehr Angebot, desto erschwerter der Überblick für den Suchenden und desto essentieller für den Veranstalter, sich durch eine besondere Offerte von der Masse empor zu heben.

Willkommen beim Le Bonheur Festival! Eine Open-Air-Reihe, welche letzten Samstag ihren Anfang nahm. Auf die Beine bzw. im relativ neuem "Club Longbeach" auf den Sand gesetzt von dem Frankfurter Platten- und Sneakerladen Freebase, dem Label Connaisseur, dem Darmstädter Club Level 6 und dem hessische Radiosender YouFM - eine Kooperation, welche es im Rhein-Main-Gebiet noch nicht gegeben hat.

Und so durften wir uns eben auf die 1. Austragung freuen, als Gastgeber: Freebase. Mit dabei: Radio Slave, DJ Karotte, Mathias Kaden (sollte er nicht als 1. bzw. letzter aufgezählt werden?), Einzelkind, Chris Wood, Meat u.a.; und eben Monaco Schranze, Adolf Noise, Raum Tyler, Stefan Kozalla oder einfach: DJ Koze. Listet man sich die restlichen Aufgebote kommender Bonheur-Events dazu, so hat man im nu ein - wenn nicht gar zwei - Nachtdigital Events und dergleichen (wenn man solch einen Vergleich ziehen darf…).

Nun gut, beginnen wir doch mal in ganz sachlicher, objektiver Berichterstattung , der Geist ernüchtert, reflektierend - Tage später:

12:00

Ortsbekundung und Bestandsanalyse. Erstes Erstaunen. Jenes jedoch schlechter Natur (was sich später jedoch als unbegründet erweisen sollte): Erschreckend wenige Partypeople säumten die liebevoll gestaltete Anlage des Club Longbeach. Unbeirrt schafften wir uns einen Überblick über das Gelände: Manesche frei galt in einem großen, halb offenem Zirkuszelt als - nennen wir es mal - Showcase I (die "Mainstage" mit Radio Slave, Karotte, Kaden etc.), Strandparty hieß es auf Showcase II - ein Openair-Floor mit Sandstrand (die "Mainstage" mit Koze, Chris Wood, Einzelkind etc.).

Im Kontrast hierzu der morbide Charme der eingang erwähnten Industrieruine, ihr gegenüber den Club Longbeach flankierender Main - was für eine Kulisse zur garantierten Reizüberflutung! Mit Liebe zum Detail aufgemachte Deko-Elemente verpasstem der Szene den finalen Schliff, und ein Hauch von Karibik-Ambiente stand in der Luft. Die Musik spielt Seite an Seite mit dem Umfeld - dies ist keine neue Erkenntnis - und so bedarf es zumindest für den Kenner keiner größeren Anstrengungen, die ungefähre Marschroute des Musikstils zu erfassen.

Zumindest auf der Open Air Stage konnte man gar nicht anders, als leichte Kost in Form von house-betuchtem Minimal in der Luft schweben zu lassen, aber deep anstatt seicht! Obleich der Klangraum keine Grenzen erfahren hatt, so unwiderstehlich, beliebig griffen die Beats die Athmospäre. Es gab beim besten Wille kein entkommen, so griffig dieser oft lyrik-getränkte Disko-/Deephouse. Der Dank gilt an das Frankfurter Künstler-Kollektiv "Zierpopp". Sie stimmten harmonisch auf einen langen, sonnigen Tag ein.

14:30

Nichts desto trotz zog es uns nun ins Zelt zu Karotte, vermutlich vornehmlich aufgrund unserer Sympathin zu diesem charismatischen Menschen (seine Musik dürften wir doch sicherlich schon mehr als einmal gehört haben). Aber so ist das eben: Den Starruhm erntet man nicht ohne angemessenen Auflegstil. Das Karotte Stil hat, steht ausser Frage. Mit stets einem Lächeln im Gesicht schickte er die größer gewordene Menschentraube mit Melodie-getränktem Minimal.

Die "Mannheimer Schule" kam auch an diesem Tage zum tragen, so war das Set von Karotte mit dem ein oder anderen Cecillé, Oslo oder 8 Bit ("5 Jähriges", mal nebenbei…) Track bestückt, wie z.B. dem potenziellem Ibiza-Sommerhit "More or Less" von Mathias Meyer auf Cecille. Nicht verwunderlich, dass die Ausmaße der angesprochenen "Menschentraube" größer wucherten. Angefixt durch das heitere, unnachahmlichen-hippiejeske Entertainment eines DJ Karotte.

17:00

17:00 Uhr, die Frisur sitzt, der Klang ist weiterhin ausnahmslos vorzüglich. Es gab einen Stellungswechsel an der DJ-Booth. Der Herr auf ihr hat wahrlich weniger Grund Sorge über sein Haar zu leiden: Radio Slave! Lange nichts mehr gehört von Matt Edwards! Aber wie heißt es doch so schön: Gut Ding will Weile haben! Man darf gespannt sein auf seinen kommenden Output. Einen Vorgeschmack auch diesen Output konnte man sich beim Le Bonheur Festival holen:

Perkussive, beatlastige Musik, ich möchte meinen, technoider noch als Karotte. Das Treiben auf dem Floor unter dem Zirkuszelt pochte stärker. Eine schweißtreibende Angelegenheit allemal, auch wenn das schattenspendende Zelt "tanz-kompatibler-klimatisiert" daherkommt. Aber für solch Atmo ist die hitzige Luft hinnehmbar. Wenn die augenblickliche Floor-Bespielung des Rekids-Heads für das eigene Wohlsein nicht reichen sollte (was ich mir nicht vorstellen kann), hätte letzen endes die Vorfreude auf alles Kommende das Tanzbein weiter schwingen lassen.

Denn da gab es noch ordentlich was auf die Mütze. Meat, Chris Wood, etc. auf der Open-Air-Stage leider über"tanzt" (die obligatorische Zwickmühle auf Groß-Raves, jeden Act beizuwohnen…), standen nun in den Startlöchern: Einzelkind, Mathias Kaden und…

21:00

Liebe Freunde, ein kleiner Zeitraffer sei gegönnt, das Beste kommt bekanntlich zum Schluss. Bzw. sind wir mit folgender Zeitschiene auch schon bei - zumindest unserem persönlichen - Schluss des Festivaltages angekommen: Mathias Kaden. Ein Künstler, welcher in den letzten Jahren wohl den größten Quantensprung im DJ-Biz gemacht hat. Backwards never, Forwards ever!

Nun gut, was will man schon noch großartig dazu sagen, wenn einem fast die Spucke im Mund hängen bleibt. Es war ein Finale Grande sondersgleichen, der Rave-Siedepunkt wurde längst überschritten. Es war Rave vom Feinsten, da Rave alla coneur auch gespielt wurde, und was für einer: Wenn Peak-Time-Nummern wie "Tropical Melons" von 2000 & One, ein Edit von "where we at" von Dixon & Co oder ein ……….. von ……………….. an sich nicht mehr ausreichen, müssen die Übergänge so klug einjustiert werden, dass sich der Rave-Schmelztiegel nochmal potenziert.

Ein bisschen Lyrik da, ein bisschen Alarm-Glocken dort, die Mischung aus dem Hause Freude am Tanzen war so dermaßen klug feingeschmeckt, dass beinahe das komplette Set von Kaden als eine einzige Peaktime-Nummer gefühlt wurde. WOW! Wo Kaden nur seine Energien zieht, wo Kaden sich nur seine "verspielten" Kalorien zu sich führt… Nach sportlicher Betätigung sieht es bei ihm fast immer aus, so stark das Wippen und Zucken Hand in Hand mit dem Beat.

Also ob dieses Verhaltensmuster alleinig nicht für sein Markenzeichen ausreichen sollte, setzt er wieder und wieder eine Schippe oben drauf: z.B. mit im Bassgefüge rythmisierter Finger-Anstöße auf der Schallplatte, so dass zusätzlich eine 2. Bassline zum Sound mit dumpfen Schlägen getippt wird. Aber wichtig: Danach bitte das Vinyl sauber mit Wasser und Hemd abstreifen, damit auch ja kein Übeltäter ausgemacht werden kann, wenn etwas am schwarzen Gold kaputt geht… Ohen Worte!

FINISH

Hatten wir das denn gerade nicht? Faktisch ja, aber die Schlusserkenntnis haben wir auf diesem prächtigen Festival schon viel früher bekommen. Dazu bedurfte es keinem Kaden mehr (welchen man nichts desto trotz natürlich nicht missen wollte). Bewegen wir uns zurück und weiter ins eigene ICH.

Es rattert. Es knarzt. So intensiv, dass fast die eigene Magengrube zu zerbröseln scheint. Kristallklarer Sound aus den Boxen der Open-Air-Stage. Es müssen schon die letzten, abschließenden Ausläufer eines Tracks sein, so lange entfremdet er schon jenen elitären "Place to be". Doch der Herr hinter den Reglern verwässert die Track-Verschneidungen so immens, dass eine Metamorphose zu etwas ganzem, schwerer Fassbarem entsteht. Aus Zwei Tracks werde Ein Track. Aus 9 Tracks werde Ein Track… Aus 14 …

Es ist der freigeistige Sound eines Stefan Kozalla aus Hamburg. Be open minded, andernfalls erfreust du dich an das offensichtlich Eingängige, was du kurze Zeit später eh wieder vergessen hast, weil du so etwas schon zu oft erlebt hast. Kozalla hat nämlich schon viel erlebt, sich selbst neu zu erfinden ist kein aus Zwang auferlegtes Credo, sondern das natürliche Bedürfnis seines Organismus. Wer sich auch nur ein bisschen mit diesem Kerl beschäftigt, der weiß, dass sich Stangenware zu seinem musikalischem Kosmos in etwa so verhält wie ein VW Polo zu einem Triumph TR 2.

Und deshalb: Lieber gekonnt an den Kanten der mehrfachen Schnittmengen fräsen als gemähte Wiesen mit dem Trimmer bearbeiten! Dazu muss man sich natürlich erstmal um die Schnittmengen bewusst werden. Noch dazu "mehrfach"… Man muss sich jetzt im Klaren sein: Koze scherzt nicht, und fordert den Zuhörer geradezu heraus. Richtig so, denn wenn man einmal abgetaucht ist, im Strom seines Setflusses - gedeiht aus unzähligen Zuläufern und Wasser(Inspirations-)quellen, verfängt man sich zuseh- und hörends und kommt nicht so leicht da wieder raus.

Sozusagen "Gefangen". "Gefangen" im eigenen ICH. Schelmisch der omnipräsente Blick von DJ Koze: "Catch me If you can!"

Plötzlich, so paradox es aufgrund seiner langatmigen Trackabschlüsse erscheinen mag, beherrschen Kuhglocken-Geräusche und Kinderstimm-Samples das Klangbild. Die eh schon entrückte Stimmung verfremdet sich noch weiter. Und fast ohne es zu Bemerken, gesellte sich seit einigen Minuten ein "Stargast" durch die Hintertür in den Klangraum: Dexter von Ricardo Villalobos. Wechselseitig "geschwängert" mit eben jenem Cocoon-Compilation-Überhit "Dead Room" von Koze´s Freundeskreis Kollektiv Turmstraße, ebenso aus Hamburg.

Was für eine Symbiose. Zum Heulen schön. Der prall gefüllte Beach wurde von Koze´s "Temple of Deepness" emotional erschüttert. Und manche Menschen, wie ich, genossen evtl. den berühmten "Flow-Zustand". Ein Zustand, der dich wie schwerelos fühlen lässt, eins mit der Musik, eins mit dir selbst, eins mit dem Ort, eins mit der Zeit, ein Zustand, der im Endeffekt gar nicht passiert, weil du ihn gar nicht wahr nimmst. Und das an einem ganz normalen (?)

Sonntag Abend um 19:00 Uhr.

"Le Bonheur", ein Glück dass es solche Festival-Schätze wie dich gibt. Danke für diese Glücksmomente! RAVE ON..."

2011 by bullytm, pics/text by christian h.] - powered by STORM Urban Water H2O + ENERGY !





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